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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783627002770
Sprache: Deutsch
Umfang: 384
Format (T/L/B): 20.0 x 12.0 cm

Beschreibung

Minka Pradelski zeichnet ein bewegendes Bild der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Drei Perspektiven einer jüdischen Familie fügen sich zu einem spannend erzählten und zutiefst berührenden Panorama.

Autorenportrait

Minka Pradelski, 1947 als Tochter Überlebender im DP-Camp Zeilsheim geboren, studierte Soziologie in Frankfurt am Main und arbeitete danach als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Clemens de Boor im Sigmund-Freud-Institut an dem Projekt »Nachwirkungen massiver Traumatisierungen bei jüdischen Überlebenden der NS-Zeit«. Darüber hinaus war sie viele Jahre ehrenamtlich für die USC Shoah Foundation tätig. Sie lebt in Frankfurt am Main. Nach ihrem erfolgreichen Roman »Und da kam Frau Kugelmann« folgt mit »Es wird wieder Tag« ein wichtiges Buch über ein Kapitel deutscher Geschichte, dessen Zeitzeugen schwinden.

Rezension

»Wie meisterhaft Minka Pradelski über dieses Kapitel der Geschichte schreibt, ist große Kunst auf dünnem Eis. Sie kann das, und sie darf das! Ein ganz wunderbares Buch, ich bin mehr als begeistert.« Iris Berben

Leseprobe

An Liliput dachte ich nach langer Zeit wieder, kurz nach Bärels Geburt in einem katholischen Krankenhaus von Frankfurt. Ruckartig wachte ich auf, meinte, sie hätten mich im Entbindungszimmer vergessen. Der schmale Raum war bereits in abendlich blaues Licht getaucht. Ein eisiger Wind blies um das Krankenhaus, zerrte an den Sturmhaken der Doppelfenster. Graue Wolldecken, der Länge nach auf der Fensterbank ausgelegt, schützten das Zimmer nur notdürftig vor der eindringenden Kälte. Jemand öffnete die Türe, knipste das Licht an. Eine Schwesternschülerin trat ein. Außer einer knappen Begrüßung, die sie gleichsam in das Zimmer hineinsprach, schwieg sie. Sie war kaum älter als ich. Das Haar trug sie unter der blauen Haube zu einem blonden Knoten gewickelt, mit gewellten Haarklammern im Nacken festgezurrt. Schwelendes Feuer war unter der Servilität zu spüren, zu der die blaue Haube sie verpflichtete. Wie groß mochte die Freude sein, wenn sie nach Dienstschluss aus der steifen Tracht schlüpfte. Ihre makellose weiße Haut sah aus, als ginge sie nahtlos in das saubere Weiß ihres Kittels über. Aus beiden Ärmeln wuchsen ihre hellblond behaarten Arme heraus und hoben mich wie ein Fliegengewicht auf das fahrbare Krankenbett. Ich zitterte vor Schwäche, verdrossen beneidete ich sie um ihre ausgeschlafene Frische. Krankenschwestern waren wohl nie bettlägerig. Mit dem despektierlichen Blick einer Pflegerin, die kein Leid erschüttert, schob sie mich barsch in die Mitte des Bettes, bis ich kerzengerade lag, deckte mich mit einem ausgebleichten, ehemals längs gestreiften Baumwollbettbezug zu, den sie meine Füße unterfütternd umschlug. Zweifellos hätte sie mich auch angegurtet, wenn sie am Bettgestell einen Riemen vorgefunden hätte. Ihre Hände umklammerten das Kopfteil des Gestells, dessen oberste helle Lackschicht, rissig geworden, graugrün schimmerte. Sie schob mich durch ein Labyrinth von spärlich beleuchteten, nach Tannenzapfen riechenden Korridoren, manövrierte mein Bett geschickt um schmale Ecken. Immer schneller wurde sie, an der grauen Decke flogen die quadratischen Gipskassetten über mich hinweg. Ihr Ehrgeiz bestand darin, das fahrbare Bett in der Mitte des Korridors in Schwung zu bringen und bis zum Krankenzimmer zentriert in Fahrt zu halten, ohne nach rechts oder links auszuweichen. Sie hatte sich wohl ein inneres Punktesystem auferlegt, das sich nur durch ein tägliches Soll erfüllen ließ. Voraussetzung war, dass die Patientin sich ruhig verhielt und nicht etwa kollabierte. Sie vermied es, die Frauen anzusehen, hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, Fragen unbeantwortet zu lassen. 'Nicht so schnell', bat ich die Schwester, die Worte in der Sprache, die mir noch nicht so geläufig war, langsam betonend. Nach einer Weile sagte sie: 'Die Nächste wartet schon.' 'Nicht barfuß in beißender Kälte', erwiderte ich und wusste zugleich, dass sie mir darauf nicht antworten würde. Dabei sehnte ich mich nach gutem Zuspruch, einem aufmunternden Wort. Vor ein paar Stunden hatte ich aufrecht auf zwei Beinen das Krankenhaus in der ruhigen Gewissheit betreten, zu den Gesunden zu gehören. Die Geburt sei ein natürlicher Vorgang, keine Krankheit, dachte ich, aber sie ließ mich geschwächt als bettlägerige Kranke zurück. Fröstelnd zog ich die wärmende Decke wie eine schützende Außenhaut um mich. Ich glaubte, das Bett lange Zeit hüten zu müssen. Erschrocken stellte ich fest, dass ich gerade auf Gedeih und Verderb den schiebenden Händen einer Unbekannten ausgeliefert war, nur an ihrer Haube zu identifizieren, eine Person, die ich nicht kannte, geschweige denn ihre Gedanken. Heftig schaukelnd lag ich in meinem rollenden Bett wie in einem überdimensionalen Kinderwagen. Ein Kind lässt sich im blinden Glauben an ein glückliches Ende der Spazierfahrt schieben, ich aber vertraute niemandem mehr.